Gemeinsam wollten wir alt werden, doch er beeilte sich , und zu meinem Entsetzen findet sein Andenken auf Facebook statt.

Vor zwei Monaten verstarb mein Mann, Dr. Peter Israelevich, in Zeiten von Covid-19, aber nicht an dem Virus. An seinem Sterbebett war die Warnung angebracht: „Den Patienten nicht berühren, Ansteckungsgefahr.“ Einen D..ck habe ich mich darum gekümmert. Ich habe ihn gestreichelt und tröstende Worte zugesprochen, Melodien, die er mochte, vorgesummt. Es linderte seine Todesangst, er wurde ruhiger, und ich haderte mit mir selbst. Sterben dauert unendlich lange. Darauf war ich nicht gefasst.

Seine letzten Worte fielen in einem Smart-Phone Gespräch: “ Zoom werde  ich nicht mehr lernen.“ Daran merkte ich, dass er seine Situation zum ersten Mal realistisch eingeschätzt hatte.

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mit Cosmonaut Boris Volynov

Er war Wissenschaftler, Astrophysiker. Als ich ihn kennenlernte, war er bereits krank. Trotzdem oder besser, gerade deswegen haben wir es miteinander versucht. Für jeden von uns war es die zweite Runde. Fünfzehn glückliche Jahre folgten. Wir haben uns sehr geliebt, obwohl wir grundverschieden sind. Seine Muttersprache war Russisch. Auf Englisch haben wir miteinander kommuniziert, Hebräisch benutzten wir im Alltag in der Familie, vor allem mit den Enkelkindern. Wenn ihn Russisch sprechende Gäste besuchten, bat er mich, uns durch Israel zu führen. Dann war ich Reiseleiterin, und er übersetzte. Zu seinen Kongressen begleitete ich ihn und er mich zu den Deutschlehrertagungen.

Jedesmal, wenn ich ihn nach seinem Zustand fragte, war „normal“ die Antwort. Aber was ist für einen Physiker normal? Normal in Relation zu dem vorangegangenen Tag?

Nach seinem Ableben saß ich allein Schiwa, erhielt ein Telegramm aber unzählige Kondolenz-E-Mails und  WhatsApp Nachrichten. Zwei Trauerfeiern fanden in Zoom statt, eine auf Russisch, die andere für Familie, Nachbarn, Kollegen und gemeinsame Freunde. Für die zweite musste ich schnell eine Power Point Präsentation vorbereiten. Dabei entdeckte ich, mein Mann hat ein Leben auf Facebook, und ich dachte, er besäße nur ein Schlafkonto.

Wie ein Kriminologe begann ich daraufhin mit Datenabgleichungen. Soweit meine Erkenntnisse: Vor einem Jahr begann er, außer seiner jahrelangen Tätigkeit auf Livejournal, aktiv auf Facebook zu werden. Anscheinend merkte er, dass Freunde und Bekannte aus der alten Heimat sich dort aufhalten. Soweit so gut. Vergleiche ich jedoch die Datumsangaben, ergibt sich, dass er ein ganz anderes Bild von sich widergegeben hat, als sein langsames Dahinscheiden war. Ein Charakterzug, der auch noch verständlich ist. Selbst die Ärzte benutzten den zynischen Begriff: Der natürliche Verlauf der Krankheit.

Aber nach dem Tod exsistiert das Konto weiter. Täglich erhält er Nachrichten. Häppchenweise gibt seine Tochter seine geschriebenen Erinnerungen preis, worauf angeregte Diskussionen stattfinden. Ist das richtig? Wollte er, der immer sein Privatleben abgeschottet hat, diese öffentliche Unterhaltung?

Damals, als wir uns begegneten, war Facebook neu. Meine jungen Studenten baten mich, beizutreten. Mir kam die Plattform wie ein totalitärer Staat vor, dem die blöden Bürger freiwillig alles preisgeben, deshalb lehnte ich ab. Als Homo Sovieticus hatte Pjoter wohl ein anderes Verständnis. Traurig ist, dass ich darüber nicht mehr mit ihm sprechen kann. Wahrscheinlich hätte er nur grinsend, wissend geschwiegen.